Nachwort zu Geneviève Pitot und "Mauritius-Schekel"

Dr. Vincent C. Frank-Steiner, Basel

"Ich habe bei Ihrer Mutter Anna Frank-Klein als junges Mädchen in Mauritius Malunterricht gehabt. Sie hat mir viel von Ihnen und Ihrem Bruder erzählt." Diese Worte standen im ersten Kontakt zwischen Geneviève Pitot und mir in einem Brief, den sie dem Jüdischen Museum, damals noch im Gropiusbau in Berlin zur Weiterleitung geschickt hat. Sie hatte im Museum einige der Kohlezeichnungen von Mitgliedern des Jüdischen Orchesters Berlin gesehen, die meine Mutter in den frühen 30er Jahren anlässlich von Veranstaltungen der Zwangsorganisation Jüdischer Kulturbund gezeichnet hatte. Nach ihrem Tod schenkte ich diese Arbeiten, die einer sorgfältigen Aufbewahrung bedürfen, dem Museum. Diese Zeichnungen und die ihr vertraute Unterschrift erinnerten Geneviève an ihre Kindheit in Mauritius und liessen sie besagten Brief schreiben, der am Anfang unserer Freundschaft stand und der damit zum Paten dieses Buches wurde.

Dem ersten Kontakt folgten weitere. Ich lernte Geneviève, die in Frankfurt als Hochbau-Ingenieurin arbeitete und dort z. B. den Bau und später dann die Renovation der Oper betreute, näher kennen. Wir trafen uns in Frankfurt am Main, Berlin, bei uns in Basel und an ihrem Wohnort Bad Homburg vor der Höh. Eine Freundschaft entstand. Geneviève, geboren in Mauritius, stellte sich nun die Frage, was eigentlich mit den Juden geschehen ist, denen sie in ihrer Kindheit begegnet war und von denen sie meine Mutter kennen und schätzen gelernt hatte. Mit der ihr eigenen Systematik baute sie Kontakte zu einer grossen Zahl der einst in Mauritius festgehaltenen Menschen auf und kam so zu reichem Zeitzeugenmaterial für ihr Buch. Jahre später organisierte sie mit Hilfe von Air Mauritius eine Reise der "Ehemaligen Mauritier" in Israel nach Mauritius, den Ort, wo sie gelitten und wo sie den Zweiten Weltkrieg und den nationalsozialistischen Holocaust überlebt hatten. - Auch wer schliesslich überlebte, litt.

Als es dann bei Geneviève Pitot Richtung Pensionierung ging, fasste sie den Entschluss, all das in einem Buch zur Darstellung zu bringen, was sie an Informationen gesammelt hatte. Ich ermunterte sie in diesem ihrem Vorhaben. Zusätzlich regte ich an, sie möge über diesen Transport der 1600 deutschen Juden und deren Gefangenhalten in Mauritius auch die Akten in Her Majesty’s Public Record Office in Kent bei London konsultieren. So tat sie anlässlich ihres nächsten Besuchs bei ihrer Schwester, die in London lebte und die ich ebenfalls hatte kennen lernen dürfen. Die aufschlussreichen Akten in Kent haben wesentlich zur Authentizität des vorliegenden Buches beigetragen und geben ihm einen vollgültig belegten historischen Hintergrund.

So gibt uns Geneviève Pitot mit ihrem Buch eine Darstellung, die einerseits aus einer Fülle von Aussagen von Zeitzeugen über das Erlebte besteht. Diese direkte Sicht der Betroffenen wird ergänzt durch die in den (englischen) Archiven vorhandenen und greifbaren Akten aus der Vergangenheit. Umgekehrt gesagt, das Ergebnis der historischen Archivarbeit wird mit den Erinnerungen der Betroffenen konfrontiert: Die beiden grundsätzlich wichtigsten Quellen aller Geschichtswissenschaft (Archivforschung und Zeitzeugenbefragung) kommen gleichberechtigt zum Zuge. Sie ergänzen sich, denn so gelingt es, ein Geschehen von zwei Seiten her zu beleuchten, was gerade in der Holocaust-Literatur sonst praktisch nie geschehen kann. Hier aber erfahren wir das Leiden der Opfer – auch wer schliesslich überlebte, litt – und die dahinterstehenden behördlichen Entscheide und Anweisungen.

Doch nicht nur dieser Arbeitsweise sondern vor allem auch dem so freundlichen, ich bin versucht zu sagen, dem den Menschen aus Mauritius eigenen wohlwollenden Charakter ist zu danken, dass in diesem Buch die Ereignisse nicht nur sachlich korrekt sondern mit echter Teilnahme beschrieben werden. Die Empathie ist es, die diesem Buch einen ganz besonderen Charakter gibt, eine Empathie, die nie in Gefühlsduselei kippt, sondern stets sachlich bleibt. Sie lässt die Lektüre des streckenweise wenig erbaulichen Geschehens erträglicher werden.

Geneviève hielt mich über das Entstehen des Buches auf dem Laufenden: Ein guter Freund in Mauritius habe das Verlegen übernommen und finanziert, berichtete sie mir gllücklich. Dann schickte sie mir voller Stolz die Besprechungen, die das Buch aus den verschiedensten Ecken der Welt erhielt und die in ersten Zeitungen erschienen: Alle durchwegs positiv.

Schon früh wusste Geneviève, dass eines Tages das Damokles Schwert eines speziellen Krebses sie treffen werde. Sie war darauf gefasst und sprach offen darüber. Bei der Regelung einiger sich daraus ergebender Probleme konnte ich ihr behilflich sein. Ferner erlaubte ich mir die Anregung, mich zum Erben der Autorenrechte an diesem Buch einzusetzen, auf dass es nicht vergessen werde. So tat sie. Ich nahm dieses Erbe als Freundschaftsdienst – gewiss nicht um Geld zu verdienen - an und fühle es seither als Verpflichtung, nach der englischen Ausgabe in Mauritius und dann später auch diejenige in USA dem Buch durch Ausgaben in weiteren Sprachen zu einem Durchbruch zu verhelfen, der meiner Beurteilung seiner Bedeutung entspricht. Ich bin deshalb glücklich, dass ich nach vielen erfolglosen Versuchen nun dieser Verpflichtung mit der hiermit vorliegenden Ausgabe einer deutschen Übersetzung endlich nachkommen kann. Bleibt als nächstes Ziel die Herausgabe des Buches in Französisch, der Sprache, in der es Geneviève geschrieben hat.

Zu diesem Nachwort gehört wohl auch ein kurzer Bericht über einen Besuch in Mauritius, den ich im Herbst 2004 habe machen können. Wenige Jahre vorher hatte ich noch mit Geneviève eine Reise nach Mauritius geplant, die dann durch ihre Krankheit verhindert wurde. Sehr gerne hätte ich mir von ihr die Insel und jene Orte zeigen und erklären lassen, die in ihrem Leben und in jenem meiner Mutter Bedeutung hatten. So musste ich Mauritius auf eigene Faust entdecken, was sich als ausserordentlich leicht erwies und zu einem ganz besonders erfreuliches Erlebnis wurde: Die Menschen auf Mauritius sind nach meiner (begrenzten) Erfahrung die nettesten Menschen, denen ich je begegnet bin. Ich wurde oftmals freundlich angesprochen und dies ohne jede Absicht oder etwa im Hinblick auf einen erhofften Nutzen. Das teilnehmende Interesse schien echt. Freundlich und keine Mühe scheuend erhielt ich stets Auskunft auf meine Fragen, etwa wenn ich touristischer Hilfe bedurfte.

Meinen Aufenthalt in Mauritius nutzte ich auch um Kontakt zu nehmen mit jenem Freund Geneviève’s, der die Finanzierung der englischen Erstausgabe des Mauritius-Schekel übernommen hatte. Ich rief Owen Griffiths an, Besitzer einer Krokodilzucht und stellte mich vor. Nicht nur lud er mich spontan zu seiner Rosch Haschana – Party, sondern organisierte auch gleich den Transport zu seinem Haus durch Freunde, die in der Gegend meines Hotels wohnten. Er wohnte am anderen Ende der Insel, was immerhin doch etwa eine einstündige Autofahrt war. Seine Gastlichkeit war einer der Höhepunkte meines kurzen Aufenthalts in Mauritius.

Aus Anlass dieser Party lernte ich einen guten Teil der kleinen jüdischen Gemeinschaft in Mauritius kennen. Der Honorarkonsul von Israel, ein gebürtiger Mauritier liess es sich nicht nehmen, mir am folgenden Tag die Insel zu zeigen, insbesondere die historisch wichtigen Punkte. So kamen wir in das Gefängnis, wenigstens in den Vorhof, in dem seinerzeit die nach Mauritius verbrachten jüdischen Männer aus Deutschland zu leben hatten, und in deren Hinterhof jene Zelte aufgestellt waren, die das Frauenlager bildeten, worüber Geneviève ebenfalls berichtet hatte. Auch fuhren wir zu jenem Friedhof, der für die rund 150 während der Jahre ihres Aufenthalts in Mauritius gestorbenen Juden zur letzten Ruhestätte wurde. Dieser Friedhof trägt den höchst eigenartigen Namen "The Jewish Cementary of St. Martin", wohl der einzige jüdische Friedhof, der nach einem katholischen Heiligen benannt ist. Ich konnte feststellen, dass dieser Friedhof in einwandfreiem Zustand ist. Neue Grabplatten sind vor einigen Jahren als Ergänzung zu den alten gestellt worden.

Dass dieses Buch nun endlich in deutscher Sprache erscheinen kann, verdanke ich einigen Zufällen und einigen Personen, die dazu wesentlich beigetragen haben. Danken möchte ich ausdrücklich Egon Meyer, Präsident der Irène Bollag-Herzheimer-Stiftung Basel für deren finanziellen Beitrag. Professor Dr. W. Michael Blumenthal, Generaldirektor des Jüdischen Museums Berlin hat durch sein Vorwort der unbekannten Autorin und ihrem bisher kaum bearbeiteten und nicht beachteten Thema Aufmerksamkeit gesichert, die anders kaum zu erhalten gewesen wäre. Peter Köhler - seine Frau Laurence, gebürtige Mauritierin und enge Freundin von Geneviève – übernahm es, aus dem französischen Original unter Beizug der englischen Übersetzung, die nun vorliegende deutsche Fassung zu erstellen. Dies war wohl der grösste Arbeitsaufwand aller Beteiligten. Dank gilt Klaus P. Gerhardt und dem Verlag Hentrich und Hentrich, die dann auch der durch äussere Umstände gegebenen Dringlichkeit wegen ausserordentlich rasch produzierten. Die Suche nach den Originalen der Bildvorlagen war erfolgreich dank Dr. Brita Eckert, Leiterin des Deutschen Exil-Archivs 1933 – 1945 in Frankfurt, wo die Materialien zu diesem Buch von Geneviève Pitot glücklicherweise deponiert worden waren.

 

Dr. Vincent C. Frank
frank.basel@freesurf.ch