Wolf Arno Kropat

"Reichskristallnacht"

Der Judenpogrom vom 7. bis 10. November 1938 - Urheber, Täter, Hintergründe

Mit ausgewählten Dokumenten

eh 33890-1745427-Universitätsbibliothek Basel

Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1997- J15873

1. Die nationalsozialistische Judenpolitik von 1933 bis 1937

Als Anfang Februar 1936 der jüdische Student David Frankfurter in Davos den NS Landesgruppenleiter in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, ermordete, reagierte die NS Führung auf das Attentat mit äußerster Zurückhaltung. Hitler begnügte sich zunächst damit, der Witwe in einem Beileidstelegramm seine aufrichtige Teilnahme zu bekunden und ihr zu versichern, das "ruchlose Verbrechen, das dem blühenden Leben eines wahrhaft deutschen Mannes ein Ende setzte", habe in der ganzen Nation "tiefe Bewegung und Empörung hervorgerufed'.' Erst eine Woche später ging Hitler bei einer Rede in Schwerin öffentlich auf das Attentat ein. Er betonte, daß der Täter ein Jude sei, und sprach in dunklen Andeutungen von der "leitenden Hand, die diese Verbrechen organisiert hat und weiter organisieren will", verzichtete aber auf alle direkten Angriffe gegen die Juden. Im Gegenteil machte die Reichsregierung in einem geheimen Runderlaß vom 5. Februar ausdrücklich darauf aufmerksam, daß "Einzelaktionen" gegen Juden aus Anlaß der Ermordung Gustloffs "unbedingt zu unterbleiben haben". Die Behörden wurden angewiesen, gegen etwaige Aktionen vorzugehen. Demgemäß mußten sich auch SA Banden, die für häufige Übergriffe gegenüber Juden z.B. in den ländlichen Regionen Frankens und Hessens verantwortlich zeichneten, aller spontanen Racheakte enthalten. Zurückhaltung schien insbesondere deshalb geboten, weil Hitler am 6. Februar die Olympischen Winterspiele in Garmisch Partenkirchen eröffnete und wenig später die Besetzung des Rheinlands durch deutsche Truppen plante.

Obwohl der Anschlag auf den Leiter einer NS Auslandsorganisation im Jahr 1936 in nationalsozialistischer Sicht eigentlich weit schwerer wiegen mußte als das spätere Attentat auf den in der Öffentlichkeit bis dahin völlig unbekannten jungen deutschen Diplomaten vom Rath, reagierte die NS Führung im November 1938 ganz anders. Noch am gleichen Tag gab das Reichspropagandaministerium der deutschen Presse konkrete Anweisungen für die Berichterstattung am nächsten Morgen: Die Nachricht über das Attentat sollte "in größter Form" gebracht werden und "die erste Seite voll beherrschen«. 4 Leitartikel drohten zugleich der jüdischen Bevölkerung in Deutschland an, daß sie für die Schüsse in der Pariser Botschaft zur Verantwortung gezogen werde. Und einen Tag später gab Goebbels bekanntlich in seiner Münchener Rede den Anstoß zu reichsweiten Pogromen gegenüber den deutschen Juden.

Der Grund für diese Reaktion lag in der völlig veränderten politischen Situation: Nach dem Rückschlag, den die Münchener Konferenz im September 1938 Hitlers Expansionsbestrebungen beschert hatte, mochte dieser, anders als 1936, keinen Anlaß mehr für außenpolitische Rücksichtnahmen sehen. Gravierender noch war der Umstand, daß sich die NS Politik gegenüber den deutschen Juden seit dem Jahr 1936 radikal gewandelt hatte.

Anfang 1936 konnten die deutschen Juden noch davon ausgehen, daß sie zwar unter erheblichen gesetzlichen Diskriminierungen leben mußten, aber ihre Existenz auf deutschem Boden von dem NS Regime nicht grundsätzlich in Frage gestellt war. Schon damals war freilich ihre Entrechtung weit fortgeschritten, die bald nach der Machtergreifung eingesetzt hatte und von Anfang an von Terror und Gewalt begleitet gewesen war. Mit Hitler hatte im Jahr 1933 ein Diktator die Regierungsgewalt übernommen, in dessen politischem Programm der Antisemitismus eine zentrale Rolle spielte und dessen radikale Judenfeindschaft weit über das hinausging, was bis dahin judenfeindliche Demagogen und völkische Gruppen in Deutschland jemals propagiert hatten.

Konsequenter noch als frühere Judenfeinde stützte Hitler seinen "wissenschaftlichen" Antisemitismus allein auf eine extreme Rassentheorie und lehnte jeden Ausgleich durch Assimilation ab. Für Hitler war das deutsche Volk durch zwei Faktoren gefährdet. Einmal durch den modernen Zivilisationsprozeß, der dazu führe, daß kränkliche und degenerative Elemente nicht mehr durch "natürliche Selektion ausgemerzt", sondern dank medizinischer und sozialer Fürsorge am Leben gehalten würden und sich womöglich noch besonders stark vermehren könnten. Diese These führte in der Konsequenz der nationalsozialistischen Rassenpolitik zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses" durch die im Jahr 1933 eingeführte Zwangssterilisierung und später zur Ermordung von Geisteskranken im Rahmen der sogenannten Euthanasie.

Eine zweite Gefährdung des deutschen Volkskörpers drohte nach der NS Rassedoktrin durch die Vermischung des deutschen Volkes mit anderen Völkern. Insbesondere den Juden warf Hitler schon in seinem Buch "mein Kampf' vor, sie strebten als "Völkerparasiten" die Bastardisierung der "arischen", angeblich einzig kulturbegründenden Rasse an. Vor diesem Hintergrund entstand die Verbindung zwischen einem radikalen Antisemitismus und einer menschenverachtenden Rassenpolitik, die zur Herrschaftsideologie der NS Diktatur wurde. Schon zu Beginn seiner politischen Tätigkeit im Jahr 1920 verlangte Hitler die Entfernung der Juden aus Deutschland, worunter man damals wohl ihre Auswanderung oder Ausweisung zu verstehen hatte, wie dies auch das Parteiprogramm der NSDAP aus dem gleichen Jahr unter bestimmten Voraussetzungen forderte.

In "Mein Kampf" verkündete Hitler bereits, der NSDAP sei es gelungen, die Judenfrage (... ) aus dem eng begrenzten Kreis oberer und kleinbürgerlicher Schichten herauszuheben und zum treibenden Motiv einer großen Volksbewegung umzuwandeln". Dies stellte freilich zu diesem Zeitpunkt noch die vermessene Wunschvorstellung eines Demagogen dar, und tatsächlich entschieden sich die Wähler zu Beginn der 30er Jahre für Hitler nicht wegen des fanatischen und rüpelhaften Antisemitismus seiner Gefolgsleute, sondern weil sie von einem starken "Führer" einen Weg aus der Wirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit erhofften.

Nur in wenigen persönlichen Gesprächen ließ Hitler damals ahnen, daß er in einem Vernichtungskampf gegen das internationale Judentum, das er gleichermaßen für den Bolschewismus wie für den Kapitalismus verantwortlich erklärte und dem er daher die Schuld für die Gegnerschaft sowohl der Sowjetunion als auch der "plutokratischen Staaten" des Westens gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland gab, das wichtigste Ziel seiner Politik sah. Erst als Hitlers Expansionspolitik auf außenpolitischen Widerstand zu stoßen drohte, kündigte er in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 für den Fall, daß das "internationale Finanzjudenturn" Deutschland in einen Weltkrieg verwickele, öffentlich "die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" an.

Nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" im Januar 1933 blieben dagegen der Öffentlichkeit die endgültigen Ziele der Politik Hitlers gegenüber den Juden verborgen. Zwar kam es nach dem Wahlsieg von NSDAP und DNVP am 5. März 1933 neben der Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten in vielen Städten und Dörfern auch zu Ausschreitungen gegen Juden, die meist von der örtlichen SA verübt wurden. Die Welle der Gewalttaten mündete am 1. April 1933 in einen demonstrativen Boykott jüdischer Geschäfte. Ziel dieser Aktion war die Einschüchterung jüdischer Unternehmer und Geschäftsleute und der jüdischen Bevölkerung überhaupt. In Verbindung mit dem wenige Tage später erlassenen "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1938 und weiteren Gesetzen machte die NS Führung deutlich, daß sie Juden weitgehend aus dem öffentlichen Dienst und wichtigen freien Berufen entfernen und die Zahl der jüdischen Studenten und höheren Schüler begrenzen wollte. In taktisch geschicktet Weise entsprach die Regierung damit einer auch in bürgerlichen Kreisen oft geäußerten Auffassung, daß der Einfluß derjuden im öffentlichen Leben und in bestimmten Berufen wie z.B. dem Rechtsanwaltsstand beschränkt werden sollte.

Im weiteren Verlauf des Jahres 1933 kehrte jedoch zunächst eine Zeit trügerischer Ruhe ein. Dies lag einmal daran, daß die bisherige aggressive Politik gegenüber den Juden hauptsächlich von fanatischen Antisemiten und von den Mittelstandsorganisationen der NSDAP getragen worden war, die jüdische Konkurrenten ausschalten wollten. Entgegen den Behauptungen von Parteifunktionären drängte aber die Bevölkerung keineswegs auf eine Verschärfung der NS Judenpolitik. Gewiß hatte es immer verbreitete antisemitische Vorurteile und Ressentiments in der Bevölkerung gegeben, doch war vor 1933 weder die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden, geschweige denn ihre Existenz in Deutschland gefährdet gewesen. Zwar hatten die deutschen Juden in der Weimarer Republik unter einer ebenso unerfreulichen wie unfairen Propaganda aus dem rechten politischen Lager sowie unter manchen Formen gesellschaftlicher Diskriminierung zu leiden, doch hat vor 1933 als einzige Partei die NSDAP versucht, die Gleichstellung der Juden auf dem Wege der Gesetzgebung zu beschränken, was damals erfolglos blieb.

Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, die die Weltwirtschaftskrise hervorgerufen hatte, war der Reichsregierung in den ersten Jahren nach der "Machtergreifung" an dem Fortbestehen jüdischer Geschäfte und Betriebe gelegen, hätte doch eine massenhafte Schließung jüdischer Unternehmen zur Entlassung Zehntausender von Angestellten und Arbeitern geführt und schwerwiegende Folgen für die gesamte Wirtschaft gehabt. Demgemäß wirkte das Reichswirtschaftsministerium wiederholt durch Erlasse darauf hin, daß Parteistellen die Tätigkeit jüdischer Firmen nicht behinderten. Gleichwohl hatten jüdische Unternehmer unter vielfältigen Schikanen lokaler NS Funktionäre zu leiden, und jüdische Angestellte in "arischen" Betrieben waren auf Druck örtlicher Parteistellen häufig von Entlassung bedroht.

Während somit die Existenz der Juden in Deutschland in den ersten Jahren der NS Diktatur zumindest nicht grundsätzlich gefährdet schien, hatten sich längst andere Institutionen der "Judenfrage" angenommen, deren Ziel es war, die Auswanderung der Juden zu erzwingen. Im Jahr 1934 hatte der preußische Ministerpräsident Göring den Reichsführer SS Heinrich Himmler zum stellvertretenden Chef der preußischen Geheimen Staatspolizei ernannt. Bald gelang es diesem, die Kontrolle über die Gestapo im ganzen Reich zu gewinnen, während Reinhard Heydrich seit 1932 Leiter des SS eigenen Sicherheitsdienstes (SD) im Jahr 1934 in Personalunion auch Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin (Gestapa) wurde. Alsbald häuften sich die Gestapoerlasse, die sich mit der Überwachung und Kontrolle der jüdischen Bevölkerung befaßten. Ein jetzt von Michael Wildt im "Sonderarchiv Moskau" aufgefundenes Memorandum des SD belegt indessen, daß Heydrichs Mitarbeiterstab schon im Jahr 1934 bemüht war, Ziele für die Judenpolitik vorzugeben, die weit über bloße staatspolizeiliche Schikanen, aber auch über den "Radauantisemitismus" hinausgingen, wie ihn z.B. vielerorts fanatische NS Funktionäre und SA Banden praktizierten und den die SD Intellektuellen für politisch nutzlos hielten. Bereits diese Denkschrift vom 24. Mai 1934 enthält die wesentlichen politischen Anliegen, die Heydrich in den nächsten Jahren gegenüber den Juden verfolgen wird:

1. Zum Hauptziel wird die "restlose" Auswanderung aller Juden aus Deutschland erklärt: "Den Juden sind die Lebensmöglichkeiten nicht nur wirtschaftlich genommen einzuschränken. Deutschland muß ihnen ein Land ohne Zukunft sein, in dem wohl die alte Generation in ihren Restpositionen sterben, nicht aber die junge leben kann, so daß der Anreiz zur Auswanderung dauernd wach bleibt." In diesem Sinne werden in den folgenden Jahren SD Referenten in immer neuen Denkschriften des SD untersuchen, welche Zielländer für die Auswanderung in Frage kommen.

2. Solange es nicht möglich ist, weitere Berufsverbote zu erlassen, soll wenigstens eine möglichst weitgehende gesellschaftliche Isolierung der Juden erzwungen werden.

3. Die Gegensätze zwischen den bestehenden jüdischen Gruppen sollen durch unterschiedliche Behandlung vertieft werden.

Als Hebel dazu dienen Heydrich vorerst die staatspolizeilichen Befugnisse zur Kontrolle des jüdischen Vereins und Verbandswesens. Die Gestapo tolerierte seit 1935 namentlich die Tätigkeit derjenigen jüdischen Organisationen, von denen sie sich eine Förderung der Auswanderung der Juden aus Deutschland versprach. So beurteilte ein vertraulicher Runderlaß Heydrichs vom 17. Januar 1935 die Tätigkeit der zionistisch eingestellten jüdischen Jugendorganisationen, die sich mit der Umschichtung zu Landwirten und Handwerkern zum Ziele der Auswanderung nach Palästina befassen", positiv und sprach sich dafür aus, diese "nicht mit derjenigen Strenge zu behandeln, wie sie gegenüber den Angehörigen der sogenannten deutsch jüdischen Organisationen (Assimilanten) notwendig" sei. Demgemäß blieben zionistische Organisationen auch im Frühjahr 1935 von vorübergehenden Versammlungsverboten verschont, erhielten die Genehmigung zu Geldsammlungen, und ihre Jugendgruppen durften in geschlossenen Räumen Uniformen tragen, was anderen jüdischen Jugendgruppen streng verboten war." Die Gestapo tolerierte auch die Einrichtung von Lehrwerkstätten, die vor allem von zionistischen Organisationen betrieben wurden, um junge Juden als Handwerker, Gärtner und Landwirte auszubilden Berufe, die in Palästina in erster Linie gebraucht wurden.


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